DAV-Interview mit Referentin Lynn Bell
„Durch die Daimons bekommen diese Häuser für mich eine neue, tiefere Bedeutung“
Lynn Bell, geboren in Chicago unter dem Tierkreiszeichen Zwillinge mit starker Betonung im zwölften Haus, gehört zu den international renommiertesten Astrolog*innen. Zunächst hat sie Soziologie und Literatur studiert. Bereits als junge Frau ist sie nach Paris übergesiedelt, wo sich seitdem ihr Lebensmittelpunkt befindet. Sie ist seit langem eine exponierte Vertreterin der psychologischen und spirituellen Astrologie, hat sich aber auch der Mundanastrologie zugewandt und integriert die Weisheit der antiken Mythologie in ihrer Arbeit.
Zudem beschäftigt sie sich mit Familienthemen im Horoskop und publiziert darüber. 1995 wurde sie Mitglied des renommierten Centre for Psychological Astrology in London, das bis 2014 eines der wichtigsten astrologischen Institute war.
Lynn Bell ist zum ersten Mal bei uns zu Gast und wird den Kongress am Freitagabend mit ihrem Vortrag eröffnen. Dabei wendet sie sich einem ungewöhnlichen Thema zu, nämlich der antiken Vorstellung von guten und schlechten Daimons (Genius) – nicht zu verwechseln mit Dämonen. Sie beruft sich auf hellenistische Autoren sowie den großen Astrologen William Lilly aus dem 17. Jahrhundert, die die Daimons dem elften und zwölften Haus zuordnen.
Klemens Ludwig sprach mit ihr über die Aktualität der antiken Weisheiten und Bilderwelt, ihre Interpretation des 11. und 12. Hauses sowie ihren Werdegang zur Astrologie.
DAV: Du präsentierst auf unserem Jubiläumskongress ein sehr ungewöhnliches Thema, nämlich gute und schlechte Daimons, die du bestimmten astrologischen Häuser zuordnest. Was können wir uns darunter vorstellen?
Lynn Bell: Die Idee, dass jeder einen persönlichen Daimon oder Genius besitzt, war in der Antike weit verbreitet. Man könnte auch von Muse sprechen, doch das ist zu sehr auf ein weibliches Klischee reduziert. Die Idee geht auf Platon und seine Lehrer von der Seele zurück, die einen individuellen Daimon als Mittler zwischen den Göttern und den Menschen besitzt. Durch Ihr Verhalten, wählen die Menschen ihren Daimon aus. Erst mit der Renaissance änderte sich diese Vorstellung dahingehend, dass nur noch besonderen Persönlichkeiten der Genius zugesprochen wird. Demnach gilt Einstein als Genie oder Mozart, aber nicht gewöhnliche Menschen. Ich halte die ursprüngliche Idee allerdings noch immer für sehr aktuell und greife sie deshalb wieder auf.
DAV: Dabei ordnest du diese Idee auch in dein astrologisches System ein.
Lynn Bell: Ja, ich ordne die Vorstellung dem 11. und 12. Haus zu. Damit bekommen diese Häuser für mich auch eine neue, tiefere Bedeutung. Wir sehen im 11. Haus zumeist die Freunde, die Wahlfamilie. Das ist sicher richtig, aber nicht alles. Ich sehe im 11. Haus die Jupiter-Energie, denn dort erhalte ich die Unterstützung von meinen Daimon, meinen Genius. Dazu eine kleine Geschichte. Als ich nach Frankreich gekommen war, wollte ich mir das Buch „The Soul‘s Code“ von James Hillman besorgen, das gerade in den USA erschienen war. In Europa gab es das aber noch nicht, und das Internet als Bestellmöglichkeit ohnehin nicht. Ich bin dann auf einen Flohmarkt gegangen und habe das Buch, das eigentlich in Europa noch gar nicht verfügbar war, dort gefunden. Da hat mein Daimon des 11. Hauses gewirkt.
DAV: Schöne Erfahrung, aber dann muss es dir mit dem Daimon des 12. Hauses anders ergangen sein?
Lynn Bell: In der Tat, im 12. Haus sehe ich die Saturn-Energie. Es ist das Exil, die Abwendung von der Welt, Klöster oder Gefängnisse ordne ich dem auch zu. Diese Energie leben wir vor allem in jungen Jahren. Ich hatte als junge Frau in Chicago immer das Gefühl, am falschen Ort zu leben, eine Außenseiterin zu sein. Mein Daimon des 12. Hauses hat mich da geprägt, und ich habe mich nach einer neuen Heimat umgeschaut. Ich könnte noch viele Beispiele dieser Art nennen, aber damit warte ich bis zu meinem Vortrag.
DAV: Warst du dir dieser Zusammenhänge damals bereits bewusst?
Lynn Bell: Nicht in dem Maße wie heute, aber ich bin schon früh mit Themen vertraut geworden, die über die rationale Erklärung der Welt hinausgehen. Bereits mit 15 Jahren habe ich mich mit Handlesen beschäftigt und Bücher über Numerologie gelesen.
DAV: Bist du auch schon so früh auf die Astrologie gestoßen?
Lynn Bell: Die Astrologie stand nicht am Anfang meiner Beschäftigung mit diesen Themen, aber als ich mein Studium begann, spielte sie bereits eine wichtige Rolle. Ich war jedoch sehr ambivalent und noch unsicher, ob ich mich wirklich darauf einlassen sollte. Zu Beginn meines Studiums habe ich deshalb alle meine astrologischen Bücher verschenkt. Einen Monat später habe ich es jedoch schon sehr bereut und mich wieder auf die Astrologie eingelassen. Der Kontakt mit einem Professor hat mir eine tiefere Dimension eröffnet. Er hatte mir empfohlen, C.G. Jung zu lesen, und das war eine wichtige Erfahrung für mich.
DAV: Dann kam ja bald die Übersiedlung nach Europa.
Lynn Bell: Ja, diese Zeit ist verbunden mit meiner vollständigen Hinwendung zur Astrologie. Mit 25 Jahren habe ich entschieden, dass ich Astrologin bin. Ich habe Beratungen angeboten, wozu ich allerdings mein Französisch noch verbessern musste, und mit 30 habe ich meinen ersten Vortrag gehalten.
DAV: Wo siehst du deine astrologischen Schwerpunkte?
Lynn Bell: In den ersten Jahren habe ich mich ganz der psychologischen Astrologie verschrieben. Dabei blieb es aber nicht. In Frankreich habe ich André Barbault kennengelernt und durch ihn die Bedeutung der Mundanastrologie. Ich habe mich also in neue Bereiche begeben, ohne die anderen aufzugeben.
DAV: Heute bist du als Vortragende weltweit unterwegs und zu dem publizistisch aktiv. Welche Themen liegen wir dabei besonders am Herzen?
Lynn Bell: Meine beiden wichtigsten Bücher handeln vom Solar, der Sonnenrückkehr, sowie von Familienfäden (Planetary Threads). So habe ich die nicht-sichtbaren, aber deutlich spürbaren Verbindungen innerhalb einer Familie bezeichnet und astrologisch beleuchtet. Auf deutsch ist „Mars im Horoskop“ erschienen, das ich gemeinsam mit Liz Greene, Darby Costello und Melanie Reinhart verfasst habe.
DAV: Vielen Dank, wir freuen uns sehr, dass du uns in Bad Kissingen einen Eindruck von deinem profunden astrologischen Wissen gibst und dabei ein Thema aufgreifst, das für die allermeisten Neuland sein wird.
Das Interview führte Klemens Ludwig.