Der siderische Zodiak
Rafael Gil Brand: Das ursprüngliche System der Astrologie des Abendlandes
Das uns überlieferte System der Astrologie – genauer gesagt: der Horoskopie – beruht auf der Stellung der Planeten in den 12 Tierkreiszeichen, sowie auf deren wesenhafte Beziehung zu diesen Zeichen, ausgedrückt als Domizile, Erhöhungen und andere Würden. Sowohl Aspekte als auch Häuser leiten sich unmittelbar aus den zwölf Zeichen ab. Diese Tierkreiszeichen werden nach den gleichnamigen Sternbildern benannt und sind siderisch konzipiert worden: das astrologische System, mit dem wir im Abendland arbeiten, wurde ursprünglich siderisch verstanden.
Der tropische Tierkreis nimmt den Frühlingspunkt als Anfangspunkt, und teilt den Sonnenpfad von dort aus in zwölf Abschnitte, angefangen beim Widder. Dieser Tierkreis orientiert sich an den Jahreszeiten, und ist als erdeigenes Feld zu verstehen, weshalb ich lieber von Erdhäusern spreche, um diese tropischen „Zeichen“ von den siderischen zu unterscheiden.
Der siderische Tierkreis orientiert sich an dem Fixsternhimmel und teilt den Weg der Sonne und der Planeten ebenfalls in zwölf regelmäßige Abschnitte gleichen Namens ein wie der tropische. Francesca Rochberg, eine der anerkanntesten Experten in babylonischer Sternkunde, schreibt: „Der babylonische Zodiak wurde nicht vom Frühlingspunkt aus gezählt, sondern nutzte als Norm die Anfangs- und Endpunkte der zodiakalen Konstellationen, jede von ihnen 30° messend … Die Tatsache, dass der babylonische Zodiak siderisch fixiert ist, impliziert dass die Fixsterne ihre Stellung in Bezug auf die normativen Punkte der Ekliptik nicht ändern.“ (1)
Dieser babylonische Tierkreis wurde – je nach Theorie – entweder durch Aldebaran, Hauptstern des Stiers, auf 15° dieses Zeichens definiert, oder durch Spica auf 30°Jungfrau, was dem heute in Indien gebräuchlichen Lahiri-Ayanāmśa entspricht (Ayanāmśa = Abstand des Frühlingspunktes zu 0°Widder). Dass es sich um einen siderischen Tierkreis handelte, geht u.a. daraus hervor, dass die mesopotamischen Astronomen die Stellung des Frühlingspunktes auf dem Tierkreis orteten. Es sind zwei Systeme überliefert, die jeweils eine Stellung des Frühlingspunktes auf 10° bzw. auf 8° Widder angaben. Urheber oder Vermittler dieser Systeme waren jeweils die babylonischen Astrologen Naburiannu und Kidinnu, deren astronomische Tafeln etwa anderthalb Jahrhunderte auseinanderlagen. (2)
Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob die Astronomen aus Mesopotamien oder Indien eine Gesetzmäßigkeit in der Präzession des Frühlingspunktes erkannt hatten. Dennoch ist es unbestreitbar, dass sie im Laufe der Jahrhunderte die Position des Frühlingspunktes korrigierten, und zwar immer auf dem Hintergrund eines an den Fixsternen orientierten Tierkreises. Die Systeme von Naburiannu und Kidinnu sind nur ein Beispiel unter anderen. Auch aus der vedischen Literatur gibt es zahlreiche Belege dafür, dass zu unterschiedlichen Zeiten der Frühlingspunkt in anderen Mondhäusern (Nakśatras) geortet wurde. Diese Einteilung in Nakśatras ist und war immer siderisch.
Dieser siderische Tierkreis ist als Wirkfeld zu verstehen, welches den galaktischen Raum einteilt, in dem sich das Planetensystem als Ganzes bewegt und entfaltet. (3)
Mythologische, esoterische und spirituelle Anschauungen des Altertums, die untrennbar mit der astrologischen Lehre verbunden sind, verstanden den Tierkreis samt den restlichen Fixsternen als achte Sphäre jenseits der Planeten. Zum Beispiel lesen wir in den hermetischen Schriften, dass Gott, nachdem Er die menschlichen Seelen schuf, sie „in Abteilungen und Räumen hoch oben in der himmlischen Natur anordnete“. Anschließend erzeugte Gott eine subtile Substanz, welcher Er Seinen Odem einhauchte, und schuf damit die Tierkreiszeichen. Diesen verlieh Er „aktive Potenzen und einen zu jeglicher Kunst fähigen Odem, Erzeuger aller universellen Ereignisse, die jemals geschehen sollen“. (4)
Dies ist die Schöpfung des Adam Kadmon, des himmlischen Menschen, während der irdische Mensch – so die hermetischen Schriften – erschaffen wurde, nachdem sich die Seelen gegen den Willen Gottes auflehnten. Die sieben Planetengötter rief Er auf, das ihre zur Schöpfung des Menschen beizutragen. Sie werden zum Instrument des Schicksals, während der Mensch in der Zeitlichkeit lebt. Gleichzeitig sind sie auch Stufen der Einweihung und der Befreiung der Menschenseele aus ihrem weltlichen Zustand. Nach hermetischer Lehre gelangt die gereinigte Seele, nachdem sie unbeschadet die sieben Sphären der Planeten passiert hat, in die achte Sphäre des Sternenhimmels, ihrer ursprünglichen Heimat.
Diese Seelenheimat begegnet uns in der Vision des himmlischen Jerusalem, die Johannes in der Offenbarung erschaut: „Die Stadt hat eine große und hohe Mauer mit zwölf Toren und zwölf Engeln darauf. Auf die Tore sind Namen geschrieben: die Namen der zwölf Stämme Israels.“ (5)
Der Sternenhimmel, und speziell der Zodiak, wird in diesen alten Visionen geschaut als der Ort der Seelen vor dem Sündenfall, vor der Absonderung des Einzelwesens aus der Ganzheit. Er ist die Seinssphäre, wohin die erlöste Seele zurückkehrt. Er verweist auf einen paradiesischen Zustand vor der Zeit, jenseits der durch die Planeten verkörperten Schicksalsmächte. Gleichzeitig ist er eine Art Speicher der Ideen bzw. Archetypen aller Lebewesen und aller Ereignisse, die jemals entstehen sollen. Wir können sagen: die Planeten stellen Wesenskräfte dar, die in Zeitrhythmen das im Tierkreis ideell Vorgebildete in die konkrete Manifestation bringen.
Die Betrachtung des gestirnten Himmels als eine allumfassende Matrix ist sehr alt und hat einen tief archetypischen Charakter. Wir finden sie etwa personifiziert in der ägyptischen Göttin Nut, die in zahlreichen Bildern als Sternenzelt in weiblicher Form dargestellt wurde. Nut wurde auch als Kuh abgebildet, aus deren Euter die Milchstraße hervorgeht, ein Mythologem, das uns häufig in den antiken Legenden begegnet. Ein weiteres Beispiel ist die Darstellung der Mutter Maria mit ihrem Sternenmantel.
In diesen Bildern sind tiefe Einsichten verschlüsselt. Es handelt sich gleichzeitig um konkrete kosmologische Zusammenhänge. Denn wir wissen, dass die Sonne, wie die anderen Fixsterne auch, aus den Kräften der Galaxie entstanden ist. Und so wie die lebensspendende Sonne aus dem Urozean der galaktischen Substanz hervorgegangen ist, so ist auch – wie oben so unten – das Leben auf Erden dem Urozean entwachsen. Es besteht eine tiefe Analogie zwischen dem irdischen Ozean und den kosmischen Wassern.
Nach dem hermetischen Axiom spiegelt sich im Teil das Ganze. Die Sonne und ihr Planetensystem sind Teil der Galaxis, in ihr gezeugt und aus ihrem Schoß hervorgegangen. Der Himmel mit seinen Fixsternen ist nichts anderes als diese Milchstraße, Matrix des Sonnensystems, welches wiederum das Leben auf Erden möglich macht.
Wie ich gleich zeigen werde, wurde der aus Mesopotamien und später aus Persien und Indien übernommene, siderische Zodiak bis ins Spätmittelalter hinein noch von den Arabern benutzt. Erst mit der Rezeption der arabischen Astrologie in Europa im 12ten und 13ten Jahrhundert etablierte sich der tropische Tierkreis in der abendländischen Kultur.
Die gerne verbreitete These eines Paradigmenwechsel hin zur Individualastrologie, welches mit einer neuen – tropischen – Auffassung des Tierkreises einhergegangen sei, ist nicht haltbar. Die ersten Individualhoroskope (aus Mesopotamien) stammen aus einer Zeit, als der Frühlingspunkt noch lange nicht bei 0° Widder angelangt war. Auch zeugt die gesamte hellenistische Astrologie einerseits von einer verbreiteten Nutzung des siderischen Zodiaks, andererseits von einer ziemlichen Konfusion hinsichtlich der Stellung und Präzession des Frühlingspunktes.
Die griechischen Astrologen übernahmen von den Babyloniern den siderischen Tierkreis. Sie waren sich aber nicht darüber einig, wo nun der Frühlingspunkt liegt. So bezeugt z.B. Achilles Tatius (drittes Jahrhundert): „Einige setzen die Solstitien an den Anfang, andere um den achten Grad, einige um den zwölften Grad, und andere wiederum um den fünfzehnten Grad“. (6) Vor allem die Definition eines Zodiaks mit dem Frühlingspunkt um den achten Grad des Zeichens Widder hatte viele Anhänger. So lesen wir etwa bei Lucius Columela (ca. 60 n.Chr.), dass „der Winter ungefähr acht Tage vor dem ersten Januar beginnt, im 8° des Steinbocks“, und weiter: „Ich lasse mich nicht beeindrucken durch das Argument des Hipparchos, welcher lehrte, dass die Sonnenwenden und Tag- und Nachtgleichen sich nicht auf den achten, sondern den ersten Graden der Zeichen ereignen.“ (7) Columela bezieht sich hier auf die tropische Definition des Zodiaks, die vom Astronomen Hipparchos bevorzugt wurde. Er scheint aber Hipparchos so zu verstehen, als behaupte er eine Stellung des Frühlingspunktes auf 0° Widder des siderischen Tierkreises.
Die vom Frühlingspunkt ausgehende, tropische Einteilung des Zodiak wurde hauptsächlich für kalendarische und astronomische Zwecke konzipiert. Wie Otto Neugebauer aufzeigt, hat Hipparchos die formale Einteilung in 12 Tierkreiszeichen sogar auf andere astronomische Kreise angewandt. (8)
Der Grund für die oben erwähnte Verwirrung liegt auf der Hand: viele hellenistische Astrologen stützten sich auf die Überlieferung des Kidinnu, hatten aber offenbar noch keine klare Vorstellung über die Folgen der Präzession. Einige Autoren beriefen sich sogar auf frühere babylonische Quellen, die den Frühlingspunkt auf 10°, 12° oder 15° setzten, obwohl diese Angaben zu ihrer Zeit obsolet geworden waren.
So hat es den Anschein, dass im Römischen Reich eine Art tropischer Zodiak kursierte, der den Widder 8° vor dem Frühlingspunkt beginnen ließ. In Wirklichkeit war die Berechnung des Kidinnu „eingefroren“ worden, was zur Folge hatte, dass die Griechen und Römer immer noch davon ausgingen, dass die Tag- und Nachtgleiche stattfand, wenn die Sonne auf 8° Widder stand, obwohl der Frühlingspunkt schon deutlich näher an 0° Widder herangerückt war.
Trotz solcher Vorstellungen wurden Horoskope offensichtlich „richtig“ berechnet. Die bei weitem größte Anzahl an Horoskopen aus dem ersten und zweiten Jahrhundert stammt aus dem Werk des Vettius Valens. Obwohl Valens an einer Stelle ebenfalls erwähnt, dass der Frühlingspunkt sich auf 8° befindet, zeigen die Planetenstellungen in seinen Büchern eine konstante Verschiebung von ca. 2° bis 3° gegenüber Nachberechnungen anhand des tropischen Zodiaks. Sie sind also nicht um 8° verschoben, sondern nehmen die Stellung im siderischen Zodiak ein, der für die Zeit dieser Geburten richtig war.
Nick Kollerstrom, der die in griechischen Horoskopen enthaltenen Planetenpositionen eingehend untersucht hat, kommt zu dem Ergebnis, dass offenbar “ein einziger Bezugsrahmen für den siderischen Zodiak sowohl von den babylonischen als auch von den griechischen Astrologen benutzt wurde, der sich über acht Jahrhunderte hielt.“ Sein Fazit ist, dass “diese Ergebnisse suggerieren, dass die antike Astrologie siderisch blieb. Griechen, die einen tropischen Bezugsrahmen benutzten, wie Euctemon und Hipparchus, werden hauptsächlich als Astronomen erinnert, die sich um Kalender und Sternpositionen kümmerten. Es gab verschiedene zodiakale Bezugsrahmen in der Antike, tropisch und siderisch, aber die Evidenz aus den uns erhaltenen Horoskopen weist klar darauf hin, dass der letztere Typ von Astrologen benutzt wurde.“ (9)
Die vedische Astrologie, die in weiten Teilen von der hellenistischen Astrologie (oder einem gemeinsamen, unmittelbaren Vorgänger) geprägt ist, hat die Nutzung des siderischen Tierkreises bis heute beibehalten. Da es sich im Wesentlichen um dieselbe Astrologie handelt, liegt eine klare Kontinuität vor, die von Mesopotamien über die hellenistische Periode bis zur heutigen Zeit reicht. Die Astrologie hat in Indien wesentlich weniger Krisen und Anfeindungen erlitten und ist dort intakter erhalten geblieben als im Abendland.
Aber diese Kontinuität ist auch in der arabischen Astrologie zu verzeichnen, und zwar mindestens bis ins 15te Jahrhundert. Es liegen viele Zeugnisse vor, die klar belegen, dass in der arabischen Astrologie der siderische Tierkreis in Gebrauch war, und zwar gerade bei solchen Astrologen, die im heutigen Andalusien oder in Nordafrika wirkten.
Eines der eindeutigsten Zeugnisse stammt von Abraham Ibn Esra (1098-1164). Er war ein Jude aus Aragón (Nordspanien), der längere Zeit seines Lebens in der Provence verbrachte, und wahrscheinlich in England starb. Ibn Esra war einer der angesehensten Gelehrten seiner Zeit, und einer der größten biblischen Exegeten.
Im einführenden Kapitel seines ersten Buches „über die Urteile der Sterne“ beschreibt Abraham Ibn Esra den Zodiak folgendermaßen:
„Du sollst wissen, dass die Alten die Sphäre in 360 gleiche Teile unterteilten, und jedes Teil „Grad“ nannten … Sie unterteilten die gesamte Sphäre in 12 Teile, und nannten jedes Teil „Zeichen“. Sie gaben einem jeden 30 Grade und jedes Zeichen erhielt den Namen der Figur, die sich dort zeigt. Dies sind die Namen der Zeichen: Widder, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion, Schütze, Steinbock, Wassermann, Fische. Diese Zeichen befinden sich in der achten Sphäre, zusammen mit den anderen nördlichen und südlichen Figuren“. (10)
Spätestens der letzte Satz macht unmissverständlich klar, dass dieser Tierkreis siderisch ist. Das mittelalterliche, geozentrische Weltbild unterschied neun Himmelssphären: die der sieben Planeten, die des Fixsternhimmels, und die der sogenannten ersten Bewegung, (11) in der die Eckpunkte des Jahreslaufs gedacht waren, welche den tropischen Tierkreis definieren. Ibn Esra aber ordnet die Tierkreiszeichen der achten Sphäre der Fixsterne zu, in der auch die übrigen Sternbilder („Figuren“) zu finden sind.
Noch deutlicher wird Abraham Ibn Esra in seinem weniger bekannten „Buch der Fundamente der astronomischen Tafeln“, in dem er die astronomischen Theorien und Berechnungen erläutert, die den von ihm selbst erstellten astronomischen Tafeln zugrundeliegen. Dort schreibt Ibn Esra zunächst folgendes:
„Man muss wissen, dass die Teilung des Kreises des Firmaments durch 12 nach zwei Auffassungen vorgenommen wird, die eine nach dem Verstand, die andere nach dem Sehsinn; diejenige nach dem Verstand ist die Auffassung des Ptolemäus, diejenige nach dem Sehsinn ist die der Alten und der Inder, und jede von ihnen ist wahr und für die ganze Kunst in jeder Hinsicht notwendig.“ (12)
Diese zwei Arten der Teilung sind der tropische und der siderische Tierkreis. Die tropische Teilung wird „nach dem Verstand“ vorgenommen, weil der Frühlingspunkt ein mathematisch abgeleiteter Punkt am Himmel ist. Der siderische Zodiak hingegen ist der, den wir sehen können, da die Sternbilder uns anzeigen, wo die Zeichen auf der Ekliptik liegen.
Beide Aufteilungen, so Ibn Esra, sind „wahr und für die ganze Kunst in jeder Hinsicht notwendig“, das heißt beide haben ihre Berechtigung und ihren Stellenwert. Die Kunst (Lat. „ars“) ist die der Astronomie und Astrologie, die zu Zeiten Ibn Esras noch als zwei Aspekte derselben Wissenschaft angesehen wurden.
Nachdem er an der Stellung bestimmter Fixsterne den Unterschied zwischen beiden Tierkreisen erläutert hat, geht Ibn Esra dazu über, den Gebrauch der tropischen Positionen zu erörtern: „Diese Tafeln, die wir zusammengestellt haben, sind nützlich um die Deklination der Sonne zu erkennen…“ etc. Er listet in diesem Abschnitt eine Reihe von rein astronomischen Berechnungen auf, die mit Hilfe seiner tropisch berechneten Tabellen angestellt werden sollten, wie etwa die Berechnung der Paranatellonta. Dies ist ja auch richtig, denn für solche trigonometrischen Berechnungen ist es notwendig, den Frühlingspunkt als Referenzpunkt zu nehmen.
Direkt im Anschluss schreibt Ibn Esra dann „über die zweite Auffassung, wonach der Kreis in 12 Teile geteilt wird“ Folgendes:
„Die zweite Auffassung gemäß den Indern, die den Kreis des Firmaments nach dem Sehsinn in 12 Teile unterscheiden, ist notwendig um die Domizile der Planeten und ihre Erhöhungen zu kennen, und die Gegenstellungen zu ihren Domizilen und Erhöhungen, und die Zeichen der Triplizitäten, und die Grenzen, und die Gesichter, (13) und die männlichen und die weiblichen Zeichen, und die männlichen und weiblichen und die hellen und düsteren und neutralen Grade, und die Grade des Glücks und die Grade der Schwächung, und die Grade der Grube, und um diejenige der 36 außerhalb des Zodiaks stehenden Figuren (zu kennen), die mit dem Aszendenten aufsteigt, und ob die aufsteigende Figur eine menschliche oder die eines anderen Tieres ist, und zu welchem Element sie gehört…“ etc.
Abraham Ibn Esra bestätigt also, dass der tropische Tierkreis „für die Kunst notwendig“ ist, um die astronomischen Berechnungen anzustellen, die der Astrologe braucht. Der siderische Tierkreis hingegen ist für die astrologische Deutung und für die Beurteilung der Nativität notwendig.
Aus den zahlreichen Belegen eines siderischen Zodiaks in der arabischen Astrologie (14) möchte ich noch einen auswählen, der aus einer relativ späten Zeit stammt. Es handelt sich um den Kommentar von Ibn Qunfud zu der Uryūza des Ibn Abī l-Rigal (latinisiert Abenragel). Ibn Abī l-Rigal wirkte in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts im heutigen Tunis, und war der Autor eines der umfangreichsten und meistgelesenen astrologischen Lehrbücher des Mittelalters. Die Uryūza war ein Lehrgedicht, in dem er dann die astrologische Lehre quasi zusammenfasste.
Ibn Qunfud schrieb seinen Kommentar im Jahr 1373, und erläutert einige astrologische Techniken anhand mehrerer Beispiele aus seiner eigenen Praxis. (15) Wenn man diese Beispiele nachrechnet, so zeigt sich, dass sie alle siderisch berechnet wurden. Hier ein Beispiel. Das erstellte Horoskop ist vom 20.September 1361, um ca. 21h20m:
Postionen nach Ibn Qunfud:
So 24°Jun, Mo 9° Zwi, Me 9°Waa, Ve 28°Jun, Ma 12° Waa, Ju 9°Kre, Sa 8° Jun, MK 7°Sko
Moderne, tropische Positionen:
So 5°46‘ Waa, Mo 21°02‘ Zwi, Me 23°29’Waa, Ve 5°24’Waa, Ma 23°19’Waa, Ju 21°02’Kre, Sa 20°08’Jun, MK 18°19’Sko
Die Positionen sind um knapp 12° verschoben und somit eindeutig siderisch, gemäß einer ursprünglich aus Indien stammenden Definition des Zodiaks, die in der arabischen Astrologie im Mittelalter in Gebrauch war.
Die in Europa weit verbreitete Auffassung, der tropische Zodiak habe sich spätestens mit Ptolomäus etabliert, ist also eine Mär.
Von einer festen Etablierung des tropischen Zodiaks kann man erst mit der Übernahme der Astrologie im spätmittelalterlichen Europa sprechen. Die Gründe dafür sind sicherlich vielschichtig und bedürfen einer näheren Untersuchung. Naheliegend ist, dass die europäische Bewunderung des Ptolomäus und die christliche Einstellung zur Astrologie – Befürwortung einer „astrologia naturalis“ und Ablehnung der „astrologia superstitiosa“ – wesentlich dazu beigetragen haben.
Die oben beschriebene und aus den alten Lehren hervorgehende räumliche, zeitliche und eschatologische Verortung des Tierkreises als „letzte Sphäre“ konnte in einem geozentrischen Weltbild auch auf den tropischen Tierkreis übertragen werden. Dieser Tierkreis bzw. die Tag-und Nachtgleichen und die Wendepunkte wurden in einer neunten, unsichtbaren Sphäre jenseits der achten Sphäre verortet. Mit der kopernikanischen Wende wurde dieses Himmelsmodell aber völlig unhaltbar. Indes bewahrt der Tierkreis auch im heliozentrischen Weltbild seine ursprünglich geschaute Funktion als übergeordnete Systemebene, wenn man ihn weiterhin siderisch versteht. Aus moderner Sicht betrachtet handelt es sich um den übergeordneten galaktischen Raum, in dem das Sonnensystem eingebettet ist und aus dem es hervorgegangen ist.
Die Revision der Klassik, die nach der kopernikanischen Wende stattfand, ging bisweilen so weit, dass man die Bedeutung der Zeichen, vor allem aber der Planetenwürden in Frage stellte. Bekanntestes Beispiel dürfte Johannes Kepler sein.
Auch nach der Renaissance der Astrologie im 19ten Jahrhundert hat es im Westen viele Schulen gegeben, die entweder die Bedeutung der Würden relativierten oder diese veränderten oder ganz fallen ließen, oder sogar die Tierkreiszeichen insgesamt in den Hintergrund treten ließen (man denke etwa an Reinhold Ebertin, der hauptsächlich mit Aspekten und Halbsummen arbeitete). Dies spricht für eine zunehmende, wenn auch weitgehend unausgesprochene Erosion der (ursprünglich ja siderischen) Bedeutung der (tropischen) Tierkreiszeichen.
Die Arbeit mit dem siderischen Tierkreis, insbesondere im Zusammenhang mit dem klassischen System von Würden und Tierkreishäusern, erlaubt nach meiner Erfahrung klarere, zutreffendere Aussagen und offensichtlichere Zuordnungen zur Lebensrealität des Geborenen. Zum Beispiel ist die Notwendigkeit der Einsetzung der Transsaturnier oft nicht mehr gegeben, weil die Determinationen der sieben klassischen Planeten und der Mondknoten, im Zusammenhang mit Zeichen, Häusern und Würden die Dinge hinreichend erklären, wo das mit dem tropischen Tierkreis nicht der Fall wäre.
Das bedeutet nicht, dass der tropische Tierkreis keine Bedeutung oder Berechtigung hätte. Die Kardinalpunkte des Jahres sind seit Urgedenken als bedeutsam erachtet worden, und ihre astrologische „Wirkung“ – zumindest im mundanastrologischen Kontext – steht meines Erachtens außer Frage. Eine Interpretation der tropischen Abschnitte im Sinne von (kollektiv verstandenen) Erdhäusern scheint mir ein vielversprechender Ansatz zu sein.
Es stellt sich aber die Frage, ob diese Erdhäuser gleiche Deutungsoperationen wie die Tierkreiszeichen zulassen. So zu tun, als wären beide Tierkreise gleich gültig im Sinne einer gleichen hermeneutischen Funktion, ist ein Widerspruch in sich: jemand kann nicht gleichzeitig Jungfrau und Löwe sein – es sei denn, man kann klar differenzieren, was die eine Aussage und was die andere bedeutet. In anderen Worten, es erscheint notwendig zu klären, welchen Stellenwert und welche Funktion der tropische Tierkreis in Bezug auf den und im Unterschied zum siderischen Tierkreis hat.
Das häufig verwendete Argument der fehlenden Begründung und Definition des sogenannten Ayanāmśa ist zunächst ein Scheinargument: der Astrologe, der einwandfrei erklären kann, warum alle von ihm verwendeten Techniken funktionieren, werfe den ersten Stein (er kann ja mit dem von ihm favorisierten inäqualen Häusersystem beginnen). Dass man nicht genau weiß, warum die Zeichen des siderischen Tierkreises die überlieferte Position haben, ist kein Beweis für ihre Ungültigkeit. Damit soll das Problem des Ayanāmśa nicht bagatellisiert werden. Es stellt sich aber nicht a priori, sondern erst nach Anerkennung der grundsätzlichen Richtigkeit des siderischen Zodiaks.
Da der Tierkreis eine Codierung des galaktischen Raumes ist, aus dem das Sonnensystem mit seinen Planeten hervorgegangen ist, muss die Lage und Definition des siderischen Tierkreises an die Struktur der Galaxis (Milchstraße) geknüpft sein. Klassische Definitionen des Tierkreises verwenden hauptsächlich Fixsterne, die den Anfang oder die Mitte bestimmter Zeichen markieren. Auch wenn dies in der Praxis ein hilfreiches Mittel zur Bestimmung zodiakaler Positionen ist, gibt es keinen Grund, diese Fixsterne gegenüber anderen zu bevorzugen. Sie sind eben nur Markierungen, mit deren Hilfe die Position des Zodiaks am Himmel festgestellt werden kann.
Eine sinnvolle Definition des siderischen Zodiaks, die sich mit den überlieferten Ayanāmśas gut deckt (sie ist so gut wie identsich mit dem Raman-Ayanāmśa), ist folgende: Das galaktische Zentrum befindet sich im goldenen Schnitt zwischen den Achsen 0°Skorpion/Stier und 0°Wassermann/Löwe. Somit liegt das galaktische Zentrum immer auf 4°22‘37‘‘ Schütze.
Die genannten Achsen bilden die Grundstruktur der Domizile. Der Goldene Schnitt – mathematischer Ausdruck perfekter Harmonie und Analogie – ist ein Verhältnis, das die Gestalt und Rhythmik lebendiger Organismen strukturiert, und auch in der Gestalt des Sonnensystems auftaucht. Darüber hinaus habe ich gezeigt, dass zahlreiche Verteilungs- und Zahlenmuster der klassischen Astrologie nach dem Goldenen Schnitt geordnet sind, was ich hier nicht weiter ausführen kann. (16)
1 Francesca Rochberg, The Heavenly Writing – Divination, Horoscopy, and Astronomy in Mesopotamian Culture, p.132; Cambridge University Press, 2004.
2 Eine eingehende Analyse über die Entstehungsgeschichte des siderischen und tropischen Tierkreises findet man bei Robert Powell, Geschichte des Tierkreises (astronova, 2006). Schon davor hatte Cyril Fagan, der Begründer der modernen siderischen Astrologie in Europa, diese Definition des alten babylonischen Tierkreises nachgewiesen (z.B. Zodiacs, Old and New, 1950).
3 Für eine ausführliche Behandlung des siderischen Tierkreises und der Planetenwürden verweise ich auf mein Buch Himmlische Matrix, dem einige Passagen dieses Artikels entnommen sind; Chiron Verlag, Tübingen 2014.
4 Ins Deutsche übersetzt aus: Textos herméticos, SH XIII; Biblioteca clásica Gredos, Madrid 1999.
5 Offenbarung, 21, 12.
6 Zitiert nach: Cyril Fagan, R.C. Firebrace, Primer of Sidereal Astrology, S.10; AFA, Tempe 1992. Deutsche Übersetztung von mir.
7 Lucius Columela, De re rustica, Buch IX (14,12); zitiert nach J.Dorsan, Rétour au zodiaque des etoiles, Paris 1980.
8 Otto Neugebauer, A History of Ancient Mathematical Astronomy, IV A 3,2 (S. 582); Springer-Verlag, New York 1975.
9 Nick Kollerstrom, The Star Zodiac of Antiquity, Culture and Cosmos, Vol. 1 no 2, Autumn/Winter 1997, pp. 5-22.
10 Abraham Ibn Esra, El libro de los juicios de las estrellas, Bd. I; Biblioteca de Sirventa, 2000. Zitat aus dem Spanischen von mir übersetzt.
11 Nach dem ptolomäischen Weltbild rotiert diese neunte Sphäre einmal in 24 Stunden, während die übrigen Sphären mit ihren eigenen, gegenläufigen Bewegungen darin enthalten sind und von ihr „mitgerissen“ werden.
12 El libro de los fundamentos de las Tablas astronómicas de R. Abraham Ibn Esra, kritische Edition von José María Millás Vallicrosa; Madrid-Barcelona 1947. Die deutsche Übersetzung des lateinischen Textes ist von mir.
13 Das sind die Dekanate bzw. ihre Herrscher.
14 Für eine gründichere Erörterung des „siderischen Tierkreises in der arabischen Astrologie“ verweise ich auf mein Webinar mit diesem Titel (https://www.astrologie-zentrum.net/index.php/de/webinare-downloads), sowie auf mein Buch „Himmlische Martrix“.
15 Comentario de la Uryūza astrolgógica de Alī b. Abī l-Riyāl, Übersetzung und kritische Ausgabe von Marc Oliveras; Publicacions i Edicions de la Universitat de Barcelona, 2012.
16 Für eine ausführliche Ableitung dieses aufgrund galaktischer Strukturen definierten Zodiaks, sowie der Rolle des Goldenen Schnitts in der alten Astrologie s. Himmlische Matrix; Chiron Verlag, Tübingen 2014.
Anmerkung der Journal-Redaktion
Um der Entwicklung dieses Themas und der damit verbundenen Stellungnahmen in Form von Kommentaren jeweils unter den Beiträgen besser folgen zu können, sei auf die beiden früheren Artikel, Die astronomische und astrologische Basis des Tierkreises, sowie auf den darauf folgenden Die Geburtsstunde des Tierkreises, mit den insbesondere dort eingestellten Kommentaren und Stellungnahmen, hingewiesen.