„Chiron – ein Elixir zur Selbstannahme“
Interview vom DAV mit Eva Stangenberg
Klemens Ludwig sprach mit Eva Stangenberg über ihre persönlichen Erfahrungen mit Chiron und dessen Bedeutung als Mittler zwischen der materiellen und geistigen Welt.
DAV: Mit deinem Vortrag „Chiron – ein Elixier zur Selbstannahme“ rückst du auf dem DAV-Jahreskongress einen erst 1977 entdeckten Kleinplaneten in den Fokus, der inzwischen recht populär geworden ist. Was bedeutet Chiron für dich? Wofür steht er?
Eva Stangenberg: Chirons exzentrische Umlaufbahn bewegt sich zwischen Saturn und Uranus. Daraus ergibt sich seine Bedeutung, dass er nämlich diese beiden Planeten verbindet. Dazu möchte ich etwas ausholen. Saturn symbolisiert bekanntlich das Konkrete, Reale, auch den realen Menschen mit all seinen Mängeln und Grenzen. Gleichzeitig steht er für Normen und Regeln, für die Gesellschaft, die darauf aufbaut und zu der man dazugehört, wenn man sich danach richtet. In früheren Zeiten war das für das Überleben unverzichtbar.
Uranus ist das Kontrastprogramm, er symbolisiert eine geistige, abstrakte Idee sowie daraus resultierend, unsere Individualität, die nicht immer mit den Normen und Regeln kompatibel ist.
DAV: Und Chiron ist in der Lage, diese gegensätzlichen Energien zu verbinden?
Eva Stangenberg: Besser noch, durch die Brücke, die er zwischen diesen beiden Wesensanteilen baut, ermöglicht er es, die Idee, als die wir gedacht sind – nämlich Uranus – zu realisieren. Ich sehe Saturn als Bild wie einen geschlossenen, quadratischen Raum, in dem sich unsere persönlichen Planeten befinden. Alles hat seinen Platz und ist nicht durchlässig nach oben in den geistigen Bereich, denn Saturn ist die Grenze. Dann kommt Chiron und schließt eine Tür in dem fest gefügten Ganzen auf – sein Symbol ähnelt einem Schlüssel. Im persönlichen Horoskop ist das Haus, in dem Chiron steht, der Ort, wo das geschieht. Das katapultiert uns aus der Bahn der Norm, denn Uranus, der Unkonventionelle, kann nun in das konkrete Leben eindringen und setzt uns so unter seinen Strom. Ich nenne das den „Siehste-Effekt“, wir erleben: „Du bist anders“, aber das wollen wir nicht, denn damit werden wir von der Gesellschaft mit ihren Normen abgetrennt, und das löst tiefe Ängste aus. Man nennt ihn ja auch den verwundeten Heiler und die Wunde meint in diesem Bild die offene Stelle in der saturnischen Schutzhaut, wo wir nun nicht nur den Energien des Uranus ausgeliefert sind, sondern auch besonders offen, ungeschützt und sensibel unsere Umwelt mit all ihren Bewertungen erleben.
DAV: Das klingt so, als ob es im Erleben ganz schön schmerzhaft sein kann?
Eva Stangenberg: Bei Chiron stellt sich ganz besonders die Frage „Wozu erlebe ich etwas“? Zu Anfang ist es das Gefühl der Andersartigkeit, häufig verbunden mit Scham darüber, das Ankämpfen gegen das scheinbar Unwerte, bis die Akzeptanz dessen uns begreifen lässt, dass die vielen konkreten Erfahrungen, die wir machen konnten, besondere Qualitäten darstellen, die nun von Nutzen sind für andere, die ähnliche Themen haben. Das Thema der Bewertung und der Abspaltung zieht sich durch den ganzen Mythos und wird deutlich schon in seiner körperlichen Erscheinung mit Pferdeleib und menschlichem Oberkörper. Der Hinterleib steht für das Menschlich – Unvollkommene, eben für unseren Körper mit all seinen Schwächen und Bedürfnissen, damit auch für Mutter Erde, was dem weiblichen Prinzip entspricht. Und gerade das wurde und wird zum Teil immer noch in der patriarchalen Gesellschaft abgewertet. Sein Oberkörper steht für das männliche Prinzip, Gott Vater, das dem gegenüber ganz hoch bewertet wird. Der Mythos lehrt uns letztlich aber, beides anzunehmen und nichts mehr zu bewerten. „Heil werden“ bedeutet dann, Körper, Seele und Geist anzunehmen.
Chiron lehrt uns zu sagen „Ja, ich bin ein Mensch mit Schwächen, ich bin nicht vollkommen, aber genau das macht mich menschlich, denn es ermöglicht mir, Empathie, Mitgefühl und Einfühlsamkeit zu entwickeln. Erst wenn ich am eigenen Körper erlebe, was es bedeutet, anders zu sein, nicht der gesellschaftlichen, saturninen Norm zu entsprechen, dann können sich diese Werte entfalten, dann kann ich andere annehmen, die ähnliche Themen haben und was noch wichtiger ist, mich selbst annehmen. So wird Chiron zu dem „Elixier der Selbstannahme“.
DAV: Das ist sicher keine leichte Übung.
Eva Stangenberg: Sicher nicht, vor allem nicht bei direkten, konkreten Konfrontationen mit dem Thema, wie z.B. bei physischen oder psychischen Leiden. Dann tendieren wir dazu, gegen das anzukämpfen, was uns leiden lässt, wir suchen nach Ursachen, aber damit werden wir es nicht überwinden, so erzählt es zumindest der Mythos und das ist auch meine Erfahrung in meinen Beratungen. Um aus dem Teufelskreis herauszukommen, benötigen wir Chiron; seine Geschichte erzählt was Heilung in seinem Sinne bedeutet und das werde ich auf dem Kongress anhand konkreter Beispiele aufzeigen.
DAV: Lass uns jetzt schon etwas konkreter werden. Wie sind deine persönlichen Erfahrungen mit Chiron? Wann bist du ihm zum ersten Mal begegnet?
Eva Stangenberg: Ende der achtziger oder Anfang der neunziger Jahre – das weiß ich nicht mehr so genau – habe ich den Mythos zum ersten Mal gelesen, und er hat mich sofort tief berührt. Ich habe dann nachgeschaut, wie Chiron-Transite bei mir gewirkt haben, und es hat mich im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos gemacht. Darauf komme ich gleich noch zurück.
Zunächst zu meiner Kindheit, ich bin in Sachsen-Anhalt geboren, nahe der ehemaligen Zonengrenze. Am 6. Januar 1960 sind meine Eltern aus der DDR geflohen; für mich der radikale Verlust meiner Heimat, ich wurde ein Flüchtlingskind ohne Zugehörigkeitsgefühl und Heimat. Zu der Zeit lief Chiron direkt über meine Mond/Jupiter-Konjunktion in meinem 4.Haus. Genau 51 Jahre später – ein Chiron-Umlauf – war ich aufgrund des Gefühls hierzulande keinen wirklichen Platz zu haben, drauf und dran, an meine Ursprünge zurück zu gehen. Eine Freundin hielt mich davon ab, indem sie sagte, „lauf nicht der Vergangenheit hinterher, sondern hol sie zu dir“. Das hat mich tief berührt, denn ich begriff, dass ich einen Teil von mir damals bei der Flucht in der alten Heimat zurück gelassen und er mir die ganze Zeit gefehlt hatte. Kurze Zeit später fand ich das Haus, in dem ich jetzt lebe und meine Praxis habe. Seitdem weiß ich, wohin ich gehöre.
DAV: Eine solche Erfahrung ist sicher sehr prägend, aber kann sie auch verallgemeinert werden?
Eva Stangenberg: Im konkreten Erleben natürlich nicht, aber im Bezug auf die dahinter liegenden Botschaften und Lehren ganz sicher. Bevor ich darauf eingehe, noch ein paar persönliche Beispiele, denn das war noch lange nicht alles. Als ich mit der Astrologie begann, stand Chiron an der Spitze meines 8. Hauses, machte ein Sextil zu meiner Sonne und ein Quadrat zu meinem Mond/Jupiter, den beiden Aspekten aus der Radix. Damit komme ich wieder auf seine Funktion als Türöffner zurück. Er hat die Tür zu meinem inneren Wissen aufgestoßen. Bekanntlich betreibe ich mit Ernst Ott eine Schule und DAV-Ausbildungsstätte. Als Ernst mich dazu einlud, stand Chiron genau an meinem MC, zudem mein Chiron-Punkt, und als wir ergänzend zu unseren Schulen in Karlsruhe und München diejenige an meinem Wohnort in Rottenburg eröffnet haben – meine erste professionelle Praxis – befand sich Chiron in Opposition zu meiner Sonne. Die Konstellation, forderte mich auf, das nach außen zu realisieren, was meiner Fische-Sonne am Herzen lag.
Diese Affinität zu Chiron-Transiten besteht bis heute. In den letzten eineinhalb Jahren stand Chiron auf meinem Fische-Merkur, einem sehr sensiblen Punkt in meinem Horoskop, meiner Stimme. Schon lange hegte ich den Plan, meine Erfahrungen mit Chiron in Buchform zu veröffentlichen, doch Saturn (in Opposition zu meinem Merkur) ließ es nicht zu: all die Pflichten im Alltag und mit der Schule, keine Zeit… Dann schlug Chiron zu, und er verschlug mir buchstäblich die Sprache. Er setzte sich, bildlich gesprochen, auf meine Stimmbänder, und ich war zum Schweigen verurteilt; kein Unterricht, keine Vorträge mehr… Mit allen möglichen Methoden habe ich dagegen angekämpft, herumgedoktert, alles vergeblich. Eine Operation verschlimmerte die Situation und hinterließ eine Narbe auf meinen Stimmbändern, auch eine klare Analogie zu Chiron. Ich konnte bestenfalls noch krächzen und meine HNO-Ärztin offenbarte mir, „ich kann nichts mehr für Sie tun, Sie müssen lernen, mit dem Zustand zu leben“. So hatte ich nun, wenn auch zwangsweise, die Zeit, um endlich das Buch zu schreiben, das ich schon so lange schreiben wollte. Als ich das Manuskript abgeschlossen hatte, ging nahezu zeitgleich Chiron aus dem Orbis zu meinem Merkur. Ich nahm Globoli und wurde innerhalb kurzer Zeit geheilt; meine Ärztin hat keine medizinische Erklärung für das Verschwinden der Narbe. Ich gehe allerdings seitdem anders mit meinem sensiblen Fische-Merkur um, er gehört jetzt zu mir und meiner Eigenart.
DAV: Welche allgemeingültige Botschaft entwickelst du aus der beeindruckenden Geschichte?
Eva Stangenberg: Chiron wurde zu meinem ganz persönlichen Lebenselixier der Selbstannahme. Ich habe endlich gelernt mit ihm zu leben und auch die Persönlichkeitsanteile, die ich nicht wollte, zu integrieren. Um es auf den Punkt zu bringen, Saturn mit Uranus zu verbinden bedeutet, „das in die Welt zu bringen, als was ich gedacht bin“; nicht wie die Gesellschaft mich haben will. Das geschieht durch die Vermittlung von Chiron. Oder anders gesagt, Chiron hat mich gelehrt, mich anzunehmen wie ich bin und etwas daraus zu machen. Selbst wenn es die Sprachlosigkeit ist, bzw. der sensible Umgang mit meiner Stimme.
DAV: Herzlichen Dank für die tiefen Einblicke in deine eigenen Chiron-Erfahrungen. Wir dürfen gespannt sein, was du auf dem Jahreskongress darüber hinaus noch an Erfahrungen und Lehren für den Umgang mit Chiron parat hast.
Klemens Ludwig sprach mit Eva Stangenberg über ihre Verständnis von Chiron und sein Potenzial zur Selbstannahme.