Die zwölf heiligen Nächte, die sog. Rauhnächte, zählen nicht unmittelbar zum astrologischen Zyklus, doch allein ihre Anzahl deutet auf die Verbindung zum Tierkreis hin. Diese Nächte sind auch als „Zeit zwischen den Jahren“, „Zeit zwischen der Zeit“ oder einfach als „Zeit dazwischen“ bekannt. Heute wird darunter allgemein die Zeit zwischen Weihnachten und dem Dreikönigsfest verstanden, wenn das Leben nicht seinen gewohnten Gang nimmt. Viele nutzen die Tage zu einem Kurztrip in südliche Gefilde, doch nichts könnte dem Geist dieser Zeit mehr widersprechen.
Es geht also nicht um ein paar freie Tage, sondern die „Zeit zwischen den Jahren“ bezog sich ursprünglich auf die Differenz zwischen dem Sonnen- und dem Mondkalender. Die Zeitrechnung hatte schon immer zwei Bezugspunkte, den Umlauf der Sonne und den Umlauf des Mondes. Der Umlauf der Sonne, das Jahr, wurde nach vielen Reformen schließlich auf 365 Tage und knapp sechs Stunden festgelegt. Die Zeit von Vollmond zu Vollmond, der sog. synodische Mondmonat, beträgt knapp über 29 ½ Tage. Damit ergeben zwölf Mondmonate 354 Tage, 8 Stunden und 48 Minuten. Das sind knapp elf Tage weniger als ein Sonnenjahr.
Um Sonnen- und Mondkalender in Einklang zu bringen, wurden elf Schalttage mit zwölf Nächten eingeführt, eben jene Zeit „zwischen den Jahren“. Der Mondkalender als allgemeine Zählung hat inzwischen weitgehend ausgedient, nicht jedoch die Erinnerung an die Zeit „dazwischen“. Ihr liegt offensichtlich mehr zugrunde, als nur ein Ausgleich zwischen zwei astronomischen Zählsystemen.
Stillstand der Sonne
Tatsächlich handelt es sich um die Zeit, in der sich die Natur auf das Notwendigste zurückzieht und die Sonne buchstäblich stehenbleibt. Das heißt, ihre Auf- und Untergangszeiten ändern sich – in unseren Breiten – nur so geringfügig, dass wir sie mit bloßem Auge nicht wahrnehmen können; ganz anders etwa als zu den Tag- und Nachtgleichen, wenn die Sonne zu rasen scheint und innerhalb einer Woche mehr als zehn Minuten früher bzw. später auf- bzw. untergeht. Zwischen dem 21. Dezember und dem 6. Januar sind es ganze zwei Minuten.
Diese Zeitqualität lässt sich erspüren; allerdings nicht in der weit verbreiteten weihnachtlichen Hektik. Wohl aber in der Natur, und so gaben die Menschen, die noch enger im Einklang mit der Natur gelebt haben, dieser Zeit eine besondere Bedeutung, die sich in Sagen und Bräuchen widerspiegelt.
Da sich die Rhythmen der Natur nicht in eindeutige menschliche Zählsysteme zwingen lassen und manches der Interpretation überlassen bleibt, gibt es zwei verschiedene Ausgangspunkte für die Rauhnächte. Weit verbreitet ist der Zeitraum vom 1. Weihnachtstag bis zum Dreikönigsfest am 6. Januar. Die Verbindung zur christlichen Tradition liegt auf der Hand: Die Zeit von der Geburt Jesu bis zur Anbetung durch die Könige, dem bis heute wichtigsten Tag im orthodoxen Zyklus, wurde als besonders heilig angesehen. Mit dem Weihnachtsfest hat sich die Kirche eine alte Tradition zu Eigen gemacht. Es gibt historisch keinen Anhaltspunkt dafür, wann Jesus von Nazareth wirklich geboren wurde, und in der alten Kirche gab es zahlreiche Gedenktage. Erst Mitte des 4. Jahrhunderts wurde Jesu Geburt verbindlich auf die Nacht vom 24. auf den 25. Dezember festgelegt. Zu der Zeit feierte einer der größten Konkurrenten des Christentums, der persische Mitraskult, sein höchstes Fest der wiedergeborenen, unbesiegbaren Sonne, sol invictus. Es war auch das Datum der Wintersonnenwende im Julianischen Kalender, ein hoher Feiertag in Rom, denn viele römische Kaiser betrachteten sich als Sonnegott.
Es ging dabei um einen siebenstufigen Einweihungsweg, orientiert an den sieben klassischen Planeten. Die Darstellungen auf den Altären versinnbildlichten die göttlichen Mysterien von Opfer, Tod und Wiedergeburt, bzw. Auferstehung – und den Bezug zur Astrologie, vertreten durch das fixe Kreuz.
Im Zentrum eines jeden Mithras-Altares befindet sich ein Stier, der von Mithras durch einen Stich in die Halsschlagader geopfert wird. Gleichzeitig beißt ihm ein Skorpion in die Genitalien. Die Polarität von Stier und Skorpion, von Leben und Sterben, vom Materiellen und Loslassen ist offenkundig. Aus dem Blut und dem Samen des Stiers entsteht das neue Leben.
Der antike Mithras gilt als Sohn des Sonnengottes Helios und wird zumeist als Mensch (Wassermann) dargestellt. Am unteren Rand des Altars komplettiert ein Löwe das fixe Kreuz. Und um die Verbindung noch offensichtlicher hervorzuheben, sind manche Altäre von den zwölf Tierkreiszeichen umgeben.
Die heiligen Nächte
Die andere Möglichkeit, die Raunächte zu beginnen, ist die Wintersonnenwende, wenn die Sonne in das Tierkreiszeichen Steinbock eintritt, zumeist am 21., manchmal am 22. Dezember. Wenn die Sonne zu Beginn der Raunächte still steht, hält auch alles Leben inne. Hier wird die Analogie zur Astrologie besonders deutlich. Was innehält, reduziert sich auf das Allernotwendigste. Und genau das ist die Energie von Steinbock und Saturn: Sich auf das Notwendige und Wesentliche zu konzentrieren, alles Überflüssige loszulassen und eben nicht an der bunten Welt Anteil zu nehmen. Aus der Reduktion schöpft der Steinbock die ihm nachgesagte Disziplin und Kraft, die Voraussetzung für seine Erfolgsorientierung. Er legt den Samen am tiefsten Punkt in der Stille, aus dem sich das Leben entfaltet. Die Raunächte laden zu dieser Stille ein, und wer sich auf sie einlässt, legt den Samen für ein bewusstes und erfolgreiches Jahr, was sich nicht unbedingt im Äußern misst.
Oder, wie es die Autorin Jeanne Ruland in „Das Geheimnis der Rauhnächte schreibt: „Die Erde empfängt in ihrem Schoß das Licht der neuen Zeit. Es wird gewogen und gehalten, bis es stabil genug erscheint, um sich ins Leben zu erheben. Sonnenkind beleuchte die Welt mit den Strahlen des neues Morgens…“. So könnte eine poetische Beschreibung des Steinbocks klingen. Zu seinem Quadratzeichen, dem Widder, tritt das neue Leben für alle sichtbar nach außen.
In abgelegenen Bergregionen Europas hat sich die Tradition am besten erhalten, und sie hat viele Namen und Formen: „Heilige Nächte“, „Zwölfnächte“, „Glöckelnächte“, „Innernächte“, „Unternächte“, „Wolfsnächte“ und „Rau(h)nächte“ sind überliefert und die damit verbundenen Rituale noch lebendig. Besonders wichtig ist es, die Wohnung und den Körper sauber zu halten, allerdings musste dafür im Vorfeld Sorge getragen werden. Während der heiligen Nächte soll keine Wäsche gewaschen und aufgehängt werden. Wenn sich die wilden Geister in einem Wäschestück verfangen, benutzen sei es als Leichentuch für den Besitzer.
Nicht die raue Natur zu der Jahreszeit, sondern die Idee der Reinigung liegt auch der Bezeichnung zugrunde: „Raunächte“, ist die Zeit, in der die Häuser und Ställe „geräuchert“ werden. Das erklärt auch der Volkskundler und Astrologie-Verleger Reinhardt Stiehle in seinem Buch „Das Rätsel der Rauhnächte“: “Der im Wortstamm „Rauhnacht“ enthaltene Gedanke des Räucherns mag dazu anregen, mit einem Räucherritual die Atmosphäre zu reinigen. Die Auswahl an möglichen Räucherstoffen ist vielfältig, traditionell wurden dabei gern Salbei, Wacholder oder Fichtenharz verwendet.“
Womöglich geht das Wort Raunacht aber auch auf „ruch“ (haarig) zurück, ein Bezug zu Tierfellen, die bei Ritualen und Umzügen getragen wurden. Die Tradition spricht häufig von der „wilden Jagd“, ausgehend von Geistern, Dämonen und sogar den Seelen der Verstorbenen, die in der Zeit zwischen den Jahren Ausgang haben. Der Mythos der Werwölfe stammt vermutlich auch aus dieser Tradition. Im Alpenraum sind die Perchten unterwegs, vorchristliche Göttinnen und weise Frauen, die heute durch Masken und Kostüme neu belebt werden. Auch der Brauch, zu Silvester Lärm zu erzeugen, sollte ursprünglich nicht das neue Jahr begrüßen, sondern die bösen Geister fernhalten.
Ein anderer wichtiger Bestandteil der Rituale sind Orakel und Prognose, nicht zuletzt im Bezug auf das Wetter. Das hatte ganz konkrete praktische Bedeutung, denn die Menschen waren vom Klima und Wetter unmittelbar abhängig. Sie haben das Wetter deshalb über ungezählte Generationen beobachtet und konnten aus dem, was sie in den Tagen erlebten, Rückschlüsse auf die kommenden Monate ziehen und sich entsprechend vorbereiten.
Anregungen
Dass die Tradition der zwölf heiligen Nächte auch in einer säkularisierten und kommerzialisierten Zeit lebendig geblieben ist und sie sogar wieder populärer wird, unterstreicht ihre Zeitlosigkeit. Da viele Menschen nach Orientierung und Besinnung suchen, gilt es, das Potential hinter den alten Traditionen zu entdecken – vor allem ihre Bedeutung als Zeit der Einkehr und Neubesinnung.
Jeder, der sich darauf eingelassen hat, wird bestätigen, dass die nächtlichen Träume in dieser Zeit nicht nur intensiver, sondern auch präsenter sind. Ein Traumtagebuch zu führen, ist eine wunderbare Praxis, diese Erfahrung noch zu intensivieren. Dabei können bewusst Themen mit in die Nacht genommen werden, die einen gerade bewegen, womöglich belasten. Unter Umständen geben die Träume eine Antwort oder zeigen zumindest eine Perspektive auf, die weiterverfolgt werden kann; und nehmen damit etwas von der Belastung. Der Rückzug von der digitalen Welt ist ebenfalls eine passende Methode, sich ganz auf die Raunächte einzulassen. Je größer diese Herausforderung, desto wichtiger, sich ihr zu stellen. Selbst wenn es nicht für die gesamte Zeit gelingt, sind Schritte dorthin ein guter Weg.
Schließlich gibt es noch eine konkrete Anregung, unter den anstehenden Themen das zu erkennen, was sich am stärksten aufdrängt und angegangen werden will: Am Vorabend der ersten Nacht werden 13 Zettel mit Wünschen, Themen, Affirmationen, Herausforderungen, etc. vorbereitet und gut gefaltet, damit keine Schrift zu erkennen ist. Sie können in einem schönen Behälter aufbewahrt, auf jeden Fall aber achtsam behandelt werden. In jeder Nacht wird dann ein Zettel gezogen und vernichtet; verbrannt, vergraben, zerrissen und dem Wind oder dem Wasser übergeben. Am Ende bleibt einer übrig: Das Thema, das angegangen werden will!
Wer keine Ställe oder Räume mehr ausräuchert, kann dennoch reinigen und sich dabei neu orientieren. Was ist längst überfällig, was sollte losgelassen werden? Das kann materieller und mentaler Art sein; wobei einmal mehr die oben beschriebene Steinbock-Energie gefragt ist, die das Potential besitzt, sich auf das Wesentliche zu reduzieren.
Mit den erwähnten Orakeln und dem Blick ins neue Jahr sind zwangsläufig Wünsche und Vorstellungen verbunden. Dass Wünsche weit mehr als Projektionen von Mangel oder Illusion von Größe sein können, hat Johann Wolfgang von Goethe treffend formuliert: „Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden.“
Gleichzeitig ist Vorsicht geboten, im Sinne der Priesterin Viviane in den „Nebeln von Avalon: „Bedenke, worum du die Göttin bittest, sie könnte es dir erfüllen“.
Die Raunächte können für all das sensibilisieren und somit ein wunderbarer Start in das heraufziehende Jahr sein.
Klemens Ludwig
Beachten Sie zu dem Thema auch die Vortragsankündigung der Astrologischen Arbeitsgemeinschaft Stuttgart sowie die Rauhnächte-Aktion des Tarot Verbandes e.V.